Viele schwärmen vom Land, die Mehrheit der Menschen in Deutschland lebt dennoch in der Stadt. Ein Blick auf die Statistik zeigt, dass vor allem Familien die großen Städte verlassen, aber dass nur sehr wenige wirklich auf dem Land wohnen. Ein Großteil der Bevölkerung bleibt im Dazwischen.
Von Kathrin Ermert
Klara Geywitz meldete sich im Sommer mit einer scheinbar einfachen Lösung zur Wohnraumproblematik zu Wort: Zieht raus aufs Land, appellierte die Bundesbauministerin an die Menschen. Sie sollten aus den großen Städten, wo es an Wohnungen fehlt, in kleine und mittelgroße Kommunen übersiedeln, in denen Häuser teilweise sogar leerstehen. Homeoffice mache ja auch längere Arbeitswege mittlerweile möglich, findet die Ministerin.
Tatsächlich gibt es diese Bewegung bereits. Das Bundesinstitut für Bevölkerungsentwicklung (BIB) konstatiert seit zehn Jahren einen Trend zu Wanderungsverlusten für die Städte, der sich in der Coronazeit noch einmal verstärkte. Allerdings sei die Schlussfolgerung, dass Menschen aufs Land ziehen, trügerisch. Laut BIB wird die einfache Unterscheidung zwischen Stadt und Land der „Komplexität von Raumstrukturen“ nicht gerecht. Das Institut definiert deshalb eine weitere Kategorie: das Umland beziehungsweise den suburbanen Raum. In diesem Dazwischen ist die Bebauung weniger dicht, diese Orte sehen nicht wie Städte aus, sind aber infrastrukturell eng mit der Stadt verknüpft, und dort wohnen viele, die in der Stadt arbeiten.
Der Speckgürtel wächst
Knapp die Hälfte der deutschen Bevölkerung (45 Prozent) rechnet das BIB diesen Übergangsregionen zu. Tatsächlich auf dem Land, also in deutlich geringer besiedelten Regionen, leben Berechnungen des Instituts zufolge nur 5 Prozent, es macht aber etwa ein Drittel der Fläche der BRD aus. Umgekehrt wohnen 50 Prozent der Bevölkerung in Städten, die aber nur zwei Prozent der Fläche Deutschlands bedecken. Das Umland, der sogenannte Speckgürtel, ist der Gewinner der Abwanderung aus den Städten. Denn wenn Menschen, oft Familien, die Stadt verlassen, ziehen sie meistens nicht wirklich aufs Land, sondern in diesen Zwischenraum. Suburbanisierung nennt das BIB diese Entwicklung deshalb, die während der Pandemie dadurch verstärkt wurde, dass weniger junge Erwachsene für eine Ausbildung oder ein Studium in die Städte gingen.
Den gleichen Trend sieht das Statistische Landesamt auch in Baden-Württemberg. Zwar war der sogenannte Wanderungssaldo, also die Differenz zwischen Ab- und Zuwanderung, in allen 44 Stadt – und Landkreisen 2023 positiv, keiner schrumpfte also. Ein anderes Bild ergibt sich jedoch, wenn man nur auf die deutsche Bevölkerung schaut (wo sich Geflüchtete und Asylsuchende ansiedeln, steuern oft Behörden). Denn dann wachsen nur jene ländlichen Kreise, die an Großstädte grenzen. Eine besonders starke Bewegung von der Stadt ins Umland sehen die Statistikfachleute im Fall Freiburgs: Die Stadt verlor 2023 rund 850 deutsche Staatsangehörige an den Landkreis Breisgau und knapp 300 an den Landkreis Emmendingen. Allerdings waren es im Saldo nur knapp weniger. Das heißt, die Universitätsstadt konnte die Verluste ans Umland mit überregionalen Zuzügen, vor allem von jungen Erwachsenen, fast kompensieren.
Mehr Platz fürs gleiche Geld
Wenn Familien von Freiburg ins Umland ziehen, hat das meistens mit dem Thema Wohnen zu tun. Denn mit der Entfernung zum Zentrum sinken die Miet- und Immobilienpreise. Etwas schwächer, wenn man sich entlang der S-Bahn bewegt, stärker jenseits davon. „Richtig günstig wohnen heißt, auf ÖPNV-Anschluss verzichten“, sagt Marco Wölfle. Der promovierte Volkswirt sowie Professor für Finanz- und Immobilienwirtschaft leitet das Freiburg Center for Real Estate Studies (CRES) und beobachtet die Entwicklung des Miet- und Immobilienmarktes in der Region. Er weiß, dass der Quadratmeter in Gundelfingen nicht viel weniger kostet als in Freiburg. In Vörstetten oder Heuweiler kann man dagegen deutlich günstiger wohnen. Egal ob Kaufpreis oder Miete: „Irgendwo ist immer der Cut“, sagt Wölfle. Seine Faustregel: Durchschnittlich bekommt man auf dem Land etwa 30 Quadratmeter mehr fürs gleiche Geld, in manch einer nördlichen Kaiserstuhl- oder abgelegenen Schwarzwald-Gemeinde sogar bis zu 50 Quadratmeter. Und genau das passiere auch: Die Menschen geben außerhalb der Stadt ähnlich viel fürs Wohnen aus, leisten sich aber deutlich mehr Fläche, ungeachtet dessen, dass sie vielleicht mehr Geld für die Mobilität zahlen müssen.
Große Unterschiede zwischen Stadt und (Um)Land gibt es laut Wölfle auch bei der Eigentumsquote. Die liegt im Bundesschnitt bei 42 Prozent, in den Großstädten Berlin und Hamburg sind es gerade einmal 16 und 20 Prozent. In Freiburg schätzt Wölfle, dass höchstens ein Drittel der Bevölkerung in den eigenen vier Wänden wohnt, auf dem Land sei dies genau umgekehrt. Daran wird sich laut dem Immobilienexperten in absehbarer Zeit wenig ändern. Denn der Zinsanstieg vor zwei Jahren lähmt den Wohnungs- und Immobilienmarkt, vor allem in der Stadt. Ganz allmählich komme im Umland wieder etwas Bewegung rein, dort nimmt das Angebot an verfügbarem Wohnraum langsam wieder zu, während es in Freiburg immer noch stagniert.
Motorenlärm am Wochenende
Wohnraummangel kennt wohl kaum eine Gemeinde mit weniger als 1000 Einwohnern. 84 davon gibt es in Baden-Württemberg, dort leben zusammen gerade einmal 45.000 Menschen. Die meisten Minikommunen liegen im Süden des Landes, 34 im Regierungsbezirk Freiburg. Hier gibt es viel Landwirtschaft und Wald, aber wenig Siedlungs- und Verkehrsfläche. Entsprechend gering ist die Bevölkerungsdichte. Viele kleine Dörfer liegen in schönen Gegenden, vor allem im Schwarzwald, deshalb spielt der Tourismus eine bedeutende Rolle, und die Zahl der Übernachtungsgäste pro Kopf der Bevölkerung liegt deutlich über dem Landesdurchschnitt – wenn es denn Hotels, Pensionen oder Ferienwohnungen gibt.
Die allerkleinste eigenständige Gemeinde Baden- Württembergs ist Böllen. Das Dorf am Fuße des Belchens nahe Schönau zählt gerade einmal 95 Einwohnerinnen und Einwohner sowie einige Betriebe: landwirtschaftliche natürlich, außerdem einige Selbständige, eine Käserei und eine Brennerei. Letztere hat Bertram Stoll 2010 in dem alten Bauernhaus eingerichtet, das seine Eltern vor 60 Jahren kauften und das der Familie seither als Zweitwohnsitz dient. Belchenbrand produziert hauptsächlich Schnaps aus Streuobst und einen Gin. Die Lizenz reicht für rund tausend Liter jährlich, Kunden sind Privatleute, einige Gastwirte und das Freiburger Spirituosengeschäft Stefan Maier.
Bertram Stoll betreibt die kleine Brennerei im Nebenerwerb, er war bis zum Ruhestand Geschäftsführer einer Freiburger Softwarefirma. Früher kam er wochenends nach Böllen, jetzt lieber unter der Woche, vor allem im Sommer. Denn bei schönem Wetter röhrten samstags und sonntags Motorräder, Porsche- und Oldtimerclubs durch Böllen, erzählt Stoll. Das sei der größte Nachteil in dem Ort, an dem er gerade die Ruhe und Naturnähe schätzt. „Südschwarzwald pur“, schwärmt Stoll am Telefon. Der Handyempfang ist hervorragend, seit drei Jahren hat Böllen sogar Glasfaser.
Dialekt in Stadt und Land
Der gute Mobilfunk in Böllen widerlegt ein Vorurteil zum Thema Land. Gegen ein anderes macht sich Martin Kistler stark. Der Landrat des Landkreises Waldshut ist im Ehrenamt Vorsitzender des Dachverbands der Dialekte. Er widerspricht vehement dem alten Klischee, dass Dialekt für mangelnde Bildung oder Rückständigkeit steht. „Das ist längst überholter Unsinn“, ereifert sich der promovierte Jurist. Es gebe Studien, die zeigen, dass Dialekte sogar im Gegenteil zur Sprachkompetenz beitragen. Kinder täten sich leicht damit, sie lernten Dialekt und Schriftsprache parallel. Kistler ist selbst zweisprachig mit Alemannisch und Hochdeutsch aufgewachsen, denn die Mutter seiner Mutter stammte aus Norddeutschland, und wenn der kleine Martin die Oma in ihrer Wahlheimat St.Blasien besuchte, schaltete er automatisch auf Hochdeutsch um.
Was haben Dialekte mit ländlichem Raum zu tun – gibt es ein sprachliches Land-Stadt-Gefälle? „Nicht zwingend“, sagt der Dialektbotschafter. Er sieht zwar eine stärkere Verhaftung der Mundart im Ländlichen, schon allein weil die städtische Bevölkerung durchmischter sei. Aber Dialekt spiele auch in Städten der Region eine Rolle. Bei der Dialektförderung gebe es Nachholbedarf in Baden-Württemberg, findet Kistler und führt die Schweiz als gutes Beispiel dafür an, wie Dialekt selbstbewusst und sympathisch gelebt werden kann. Das würde der Dachverband der Dialekte, den es erst seit einem Jahr gibt, gern in Baden-Württemberg erreichen. Er will die Aktivitäten von Organisationen wie der „Muettersprochgesellschaft“ bündeln, um das Thema auf Landesebene zu platzieren. Zum Beispiel mit dem Landespreis Dialekt, der erstmals ausgeschrieben wurde und um den sich 330 Beiträge in fünf Kategorien beworben haben. Die Herkunft der Einsendungen bestätigt, dass Dialekt nicht nur ein ländliches Thema ist. Sie sind gut verteilt – sowohl zwischen Stadt und Land als auch zwischen Baden und Schwaben.