Lebensqualität ist selten das allererste Ziel, wenn in südbadischen Rathäusern oder Landratsämtern Maßnahmenpakete geschnürt oder Teilabschnitte eingeweiht werden. Dabei ist sie gerade in unseren Breiten auf dem Land wie in der Stadt gleichermaßen wichtig.
VON RUDI RASCHKE
Kurz ein paar Gedanken zur Idee für dieses Heft und zum Prozedere: Inzwischen gibt es für fast alles Listen und Rankings. Unsere Kollegen von der Basler Zeitung, deren Stadt sich eher mit Rotterdam und Washington vergleicht als mit Rottweil und Waldshut, haben es erst kürzlich zusammengefasst. Von der Innovationskraftüber die Familienfreundlichkeit bis zur Streetfoodtauglichkeit reichen die unzähligen Ranglisten, in denen nicht nur unser Schweizer Nachbar inzwischen bewertet wird.
Es gibt skurrile Harvard-Formeln eben sowie die Erkenntnis des Nobelpreisträgers Daniel Kahnemann, dass wir Menschen ab einer gewissen Einkommenshöhe nicht mehr wesentlich glücklicher werden können. Wir sind bei diesem Heft zur Ermittlung der Lebensqualität folgendermaßen vorgegangen: Bekanntlich teilt sich der Regierungsbezirk Freiburg, der die Region Südbaden abbildet, in neun Landkreise und einen Stadtkreis. Das sind:
- Freiburg
- Breisgau Hochschwarzwald
- Emmendingen
- Konstanz
- Lörrach
- Ortenau
- Rottweil
- Schwarzwald-Baar
- Tuttlingen
- Waldshut
Diese zehn Kreise lassen sich in Kriterien von Gesundheit über Wirtschaft bis Tourismus vergleichen. Wir haben neun dieser Kriterien festgelegt. Und uns hierin um einzelne Daten, beispielsweise Apothekendichte oder Übernachtungszahlenbemüht – sofern sie für alle Kreise erhältlich waren. Daraus sind Listen mit Platzierungen entstanden, die im Heft optisch über die Kreis-Porträts gestreut sind.
Keine Rangliste, aber ein paar Erkenntnisse
Ein finales Ranking zu erstellen, welcher Land- oder Stadtkreis nun am Ende über allem der Beste ist, war für uns nicht das Thema. Es wäre schwer zu gewichten, ob nun Grünflächen und Sternerestaurants doppelt so viel zählen wie Krankenhausbetten oder Akademikerarbeitsplätze. Ein guter Einblick, worin die einzelnenRegionen stark oder schwach sind, Herausforderungen oder Chancen beziehen, ergibt sich trotzdem. Und natürlich wissen wir, dass es keine Lebensqualität ohne gute wirtschaftliche Zahlen gibt. Hier steht der gesamte Regierungsbezirk sehr gut da.
Was wir gelernt haben beziehungsweise uns weiterhin fragen: Warum sind nicht ganz viele Dinge von der Idee der Lebensqualität getrieben? Im Winter hatte netzwerk südbaden im Einzelhandel-Heft Experten aller Sparten gefragt, wie die Innenstadt zu retten sei. Eine der schönsten und einleuchtendsten Antworten lieferte der Familien- und Paartherapeut Jochen Leucht aus Freiburg. Mit Blick auf die angeschlagene Beziehung zwischen Handel und Kunde antwortete er: „Eine Stadt sollte sagen: Wir räumen auf und machen jetzt die Plätze schön, damit Ihr im Frühjahr dort ein Glas Wein trinken könnt.“
Wer im Sommer einige Wochen in Italien, Spanien oder Frankreich verbracht hat, wird feststellen, dass dies bei uns gar nicht so leicht fällt mit dem Glas Wein auf den Plätzen. (Sämtliche Gründe in einer Jammerliste aufzuzählen ersparen wir Ihnen.) Dabei konnten wir gerade in der Pandemie genug lernen, was uns oft fehlt: öffentliche Plätze, die wir gern betreten. Menschen begegnen, die nicht nur unserer Altersklasse und Interessensgruppe angehören. Grüne Innenstädte und Stadtteile, Freiflächen für Essen, Trinken und Leben statt für Wohnmobil, Van oder SUV.
Lebensqualität nach der Pandemie
Die Pandemie hat andere Fragen gestellt, als nur die nach schneller Beförderung in die Stadt und wieder zurück: Wo finde ich daheim smarte Orte fürs Arbeiten, wo kann ich in meiner Nachbarschaft eine Spazierrunde drehen, was passiert, wenn zwei Parkplätze für etwas Gastroaußenfläche geopfert werden? Kommt die Idee der „15-Minuten-Stadt“ als Kleinstradius aus Paris auch zu uns? Ob man einzelne Maßnahmen mochte oder abgelehnt hat: Die Diskussionen über Lebensqualität hat dies alles befeuert.
Was in der Zeit nach der Pandemie neu verhandelt wird – ebenfalls fürs Land wie für die Stadt: Wenn traditionelle Themen wie Sicherheit, Gesundheit, Verkehr, Wohnen seit Jahrzehnten unsere Idee vom Lebensgefühl prägen, dann ist mit den neuen Arbeitsorten und -rhythmen ein Faktor hinzugekommen, der sich noch schwer messen lässt. Relevant ist er allemal. Genau wie der lokale Klimaschutz, der sich im Ergebnisunbestreitbar auf die Lebensqualität auswirken sollte.
Und noch etwas lässt sich nur schwer in Statistiken fassen und ist dennoch wichtig für die Lebensqualität, nämlich das soziale Kapital. Das kann von lebenswerter Grünfläche bis zum Erhalt unabhängiger Kleinkinos reichen, aber auch ein schönes Gefühl in der Nachbarschaft sein: Kann der Ladenbesitzer seine Pflanzen und die Bank vorm Geschäft über Nacht unbehelligt stehenlassen, gibt es ein Gefühl für Miteinander und soziale Kontrolle fern von übertriebenem Bürgersinn?
Der kanadische Medienunternehmer und Stilexperte Tyler Brûlé (Magazin Monocle) warnt, dass die Lebensqualität einst lebenswerter Städte und Regionen abfällt, wenn das soziale Kapital bröckelt. „Was nützt ein großer Parkin der Stadt, wenn er voller Hundekot ist?“ Man brauche nicht nur eine Grünfläche, sondern auch eine Bevölkerung, die gewissen Regeln folge. Ein Satz, den sie sich in Freiburg, dem Zentrum des Regierungsbezirks, mahnend in den Gemeinderat hängen sollten. Dort wo Lärmen, Sachbeschädigung und sich entleerende Menschen immer noch als urbane Folklore verklärt werden.
Allgemein gilt ja beim sozialen Kapital für alle zehn Kreise unserer Südwestecke: Die besten „harten“ Standortfaktoren von Arbeit über Wohnen bis Bildung funktionieren nur an der Seite von „weichen“ Faktoren – wie zum Beispiel Kultur, Freundschaft oder Schönheit. Auf diesen etwas ungewöhnlichen Dreiklang der Attraktivität kam vor einem Jahr das Schweizer Gottlieb-Duttweiler-Institut in seiner Studie Schaffhausen 2030. Das Wachstum sozialer Netzwerkevor Ort könne eine größere Rolle spielen als das Wachstum des Sozialprodukts, sagt das GDI. Soziale Energie ist das, was in einer wohlhabenden Region letztlich für die Attraktivität sorge.
Ein paar Fragen zum Schluss
Nun fällt es Städten und Kreisen verständlicherweise nicht eben leicht, zwischen großen Brocken, to-do-Sachzwängen und der Abwicklung von Förderprogrammen noch etwas für die soziale Statik zu tun. Wichtig wird aber sein, dass die politische und planerische Steuerung mit den immer dynamischeren Herausforderungen hierbei Schritthält. Und dass sich alle an den Prozessen Beteiligten hin und wieder ein paar Fragen stellen:
- Ist unser Wohnungsangebot nochzeitgemäß?
- Wie ist es um den Austausch der Generationen bestellt?
- Wie erhalten wir kleinteilige Handelsstrukturen, wer hilft, dass der Bäcker und der Gemüsehändler oder die individuelle Boutique im Stadtteil überleben können?
- Wie können wir Lieferkettenverkürzen in den Gemeinden?
- Welche Community-Treffpunkte gibt es abseits institutioneller Angebote?
- Wie können Plätze und Parks Stress reduzieren – für Mensch und Umwelt?
- Welche Angebote gibt es, um möglichst viel Unabhängigkeit vom Automobil herzustellen?
- Kennen die Leute ihre Nachbarschaft noch?
- Sind die Arbeitsplätze bei uns noch zeitgemäß?
1 Kommentar
Volltreffer. Der Artikel spiegelt all das wider, was mich beschäftigt. Von der Folklore der “wärmsten Gegend” Deutschlands oder der “Toskana” Deutschlands alleine, kann man nicht zehren. Viele Merkmal, die im Artikel aufgezeigt werden, gilt es anzugehen.