Der Trendscout Raphael Gielgen ist für das Schweizer Familienunternehmen Vitra in der ganzen Welt unterwegs. Auf der Suche nach den Bewegern einer neuen Zeit stellt er sich und anderen immer wieder die Frage, wie wir in Zukunft arbeiten werden.
Interview von Rudi Raschke
Sie sind als „Head of Research and Trendscouting“ bei Vitra tätig. Wie hat man sich Ihre Tätigkeit als „Antenne nach draußen“ vorzustellen?
Meine Aufgabe ist es, ein Panorama der zukünftigen Welt der Arbeit zu erstellen. Dies ist natürlich nicht statisch, da es immer wieder neue Einflüsse gibt. Das Zukunftspanorama hilft uns dabei, den Status Quo zu hinterfragen. Stellen Sie sich selber mal die Frage, was von Ihrer Arbeit in fünf Jahren gleich bleibt oder was daran vollkommen neu sein wird. Natürlich ist es für Vitra nach wie vor wichtig, Möbel in einer herausragenden gestalterischen Qualität zu bauen, die weit über Ihre Zeit der Entstehung Bestand haben. Wie bei jedem großen Unternehmen gibt es auch bei uns zwei Pole. Zum einen ist es die Welt des Klassikers, die untrennbar mit unserer Geschichte verbunden ist und die uns so viel Orientierung, Inspiration und Anleitung gibt. Der andere Pol beschäftigt sich damit, in die neue Welt einzutauchen, um auch diese zu begreifen. Dadurch entstehen auch immer wieder spannende Projekte, Designstudien und Produkte, wie etwa das Tischsystem Hack oder das multifunktionale Arbeitsmöbel Stool-Tool, die beide in Zusammenarbeit mit dem Designer Konstantin Grcic entwickelt wurden.
Kürzlich war ich bei der „me-conference“, einem Co-Format der SXSW und Mercedes Benz im Rahmen der IAA. Dort hat Sheryl Sandberg von facebook Mercedes-Chef Dieter Zetsche provokativ gefragt, wie ein über 100 Jahre altes Unternehmen „fast forward“ sein könne. Er hat mit Blick auf die S-Klasse geantwortet, dass es hohe Perfektion, Präzision und echte Ingenieurskunst erfordert, wenn man das beste Auto der Welt bauen will. Gleichzeitig veranstaltet Mercedes-Benz Hackathons, also kollaborative Entwickler-Events, auf denen die Mobilität der Logistik komplett in Frage gestellt wird. Das meine ich mit den zwei Polen.
Ihr Thema ist die „Future of the office“ – wie wird sie von Startups beeinflusst?
Mein Thema ist „Die Zukunft der Arbeit“ und diese reduziert sich nicht auf das Office. Es sind gesellschaftliche, technologische, aber natürlich auch Themen der Architektur. Die Startup-Kultur ist nichts anderes als eine Reaktion von einem Teil der Gesellschaft auf die alte Welt. Es gibt ganz offensichtlich Bedürfnisse und Sehnsüchte, die am Ende der Industriellen Ökonomie nicht mehr erfüllt wurden. Das Verlangen nach einem anderen Arbeitsmodell und Arbeitsinhalt, einem gesellschaftlichen Beitrag und Sinnhaftigkeit. Dabei geht es zunächst gar nicht ums große Geld. Sondern um die positive Besessenheit von einer Idee.
Sie beschäftigen sich seit Jahrzehnten mit diesem Thema, seit drei Jahren in Ihrer aktuellen Aufgabe. Erleben wir gerade eine Revolution?
Es ist eher eine Evolution. Freaks hat es immer gegeben, es wurde nur nicht so viel darüber geredet… aber es geht aktuell so verdammt schnell, dass es selbst mir schon mal die Luft raubt.
Vermutlich weil nie zuvor so viele Freaks mit soviel Kapital ausgestattet wurden…
Vergessen sie das. Geld ist überwertet. Kein Venture Capitalist, kein Family Office und kein Unternehmen wirft einem das Geld hinterher. Die Startup-Teams die ich kenne, arbeiten verdammt hart, sind sehr bescheiden und – man glaubt es nicht – demütig. Das Thema geht jetzt so stark durch die Medien, weil etablierte Unternehmen sich davon Orientierung und Anleitung versprechen. Es wäre aber ein Fehler, das Alte, woher man kommt, zu vergessen und nur noch Experimente zu wagen. Jedes Unternehmen hat ein Gedächtnis und einen Gründungsimpuls. Das ist mit das Wertvollste, was es gibt, aber es steht in keiner Bilanz und deshalb vergisst man es. Es gilt also beides zu tun. Wenn sich morgen ein Kunde für eines unseres Sofas entscheidet, dann verbindet er damit eine besondere Qualität, ein herausragendes Design und die Hoffnung, dass es ein Lieblingsstück wird. Nichtsdestotrotz müssen auch wir uns andere, neue Fragen stellen. Für die gebaute Arbeitsarchitektur ist die Formel einfach: Es braucht die Verortung der Bürogemeinschaft, die der Firma Stabilität gibt. Und es braucht die Garage, den Gegenpol für das Experiment.
Es bringt also wenig, ganze Unternehmen von heute auf morgen umzubauen.
Nein. Ich kenne einen Unternehmer für Präzisionsbauteile im Schwarzwald. Er hat den Lehrlingen den Schlüssel für die Werkstatt seines Großvaters gegeben. Dort sollten sie ab sofort jeden Freitag an einer Aufgabe arbeiten, die sie sich selbst stellen. Gemeinschaftlich, egal ob sie in der Verwaltung oder in der Technik tätig sind. Es ging darum, Dinge zu entwickeln, die das Unternehmen weiterbringen.
Dann reden wir vermutlich über mehr als nur die Ausstattung der Werkstatt…
Genau. Für mich gibt es drei Ebenen: Erstens das „Betriebssystem“ einer Firma. Mitarbeiter, die über Jahre in einer Linienorganisation waren, treffen nicht über Nacht Entscheidungen und übernehmen Verantwortung. Das bedeutet, man sollte Klarheit darüber haben, welches „Betriebssystem“ (Linien-, Matrix- oder agile Organisation) das Unternehmen in die Zukunft führt. Zweitens geht es nicht nur um den Schlüssel, sondern auch um die Methoden. Hier gibt es einen Unterschied zur fachlichen Prozesskompetenz, nämlich mit welchem Werkzeugkasten man sich Aufgaben nähert. Heute gibt es über 20 Business-Design-Methoden, die in den wenigsten Unternehmen etabliert sind. Die dritte Ebene ist dann der Raum. Der mutige Unternehmer im Schwarzwald hat im ersten Schritt die Lehrlinge aus dem existierenden Betriebssystem (Weisung und Kontrolle) genommen und sie zur Agilität aufgefordert. Er hat den Lehrlingen aber auch einen Coach bereitgestellt, der sie an unterschiedliche Methoden und Tools heranführt. Mit der Werkstatt vom Großvater hat er eine räumliche Situation geschaffen, in der die Zukunft verortet wird. Das ist ein wunderbares Beispiel, wie jedes Unternehmen einen zweiten Pol in der etablierten Organisation schaffen kann.
In Präsentationen zeigen Sie, dass an der Arbeit auch wieder der „Lagerfeuer“-Charakter gefördert wird – wie schaut das anhand Ihrer Erfahrungen aus?
Die Welt von morgen baut auf Gemeinschaften auf. Bei Startups bauen per se auch die Büros und das Geschäftsmodell darauf auf. Es geht um Communities statt um Organigramme, um die Organisation entlang von Talenten und Werten. Dafür braucht die Gemeinschaft einen Ort, an dem sie sich versammeln kann. Coworkingspaces haben eine gesunde Rezeptur für solche Bereiche. Auch für Durchmischung und Vielfalt, das ist wie bei einem funktionierenden Stadtquartier.
Stehen angesichts der räumlichen Situation in sogenannten Kreativ-Quartieren nicht Enge und Effizienz ganz oben auf der Tagesordnung?
Ja, es wundert mich selber, wie man einfach kritiklos die Anforderungen des Management bedient, ohne zu hinterfragen, ob es nicht eine andere Möglichkeit gibt, die Potenziale zu entfalten und die Organisation zu entwickeln. Es gab noch nie so viele Möglichkeiten wie jetzt, Zukunft und damit Raum zu gestalten. Die Arbeitswelt von morgen ist eine Collage der Möglichkeiten. Damit meine ich eine Collage der Trends, die für das Unternehmen von Bedeutung sind, eine Collage der räumlichen Vielfalt, die die unterschiedlichen Betriebssysteme bedient und eine Collage an Materialien, Oberflächen und Produkten, die die Werte der Community wiederspiegeln.
Warum ist das klassische Büro im Zeitalter von überall-Arbeiten nicht tot?
Wir sind in einer Transferzeit. Da schaltet sich nichts von heute auf morgen ab. Das hierarchische System, die Linienorganisation, lässt sich auf Dauer nicht aufrechterhalten, dafür ist die Veränderungsgeschwindigkeit zu hoch. Die Verortung der Bürogemeinschaft wird sich nicht ändern, das bleibt uns erhalten.
Eine Frage aus eigener Erfahrung: Gibt es Hoffnung, dass die Kultur der „clean desks“, der allabendlich aufzuräumenden, weil von Mehreren genutzten Schreibtische, dem Ende entgegen geht?
Ich bin kein Freund von eindeutigen „zu-Ende“-Szenarien, aber wenn ich an eines nicht glaube, ist es der „clean desk“. Wenn Kreativität die neue Währung ist, warum soll ich dann jeden Tag meine „Werkstatt“ aufräumen?
Wie fließen Ihre Erkenntnisse wieder in das Design bei Vitra ein?
Ich stelle ein Bild von der Welt von Morgen zur Verfügung. Ab hier übernehmen die unterschiedlichen Teams. Der größte Benefit ist es, in zwei Systemen zu denken. Dass wir weiterhin das perfekte Produkt bauen, aber auf der anderen Seite auch Dinge hinterfragen. Es geht nicht darum, meine Erkenntnisse eins-zu-eins nachzubilden. Das wichtigste ist es, dass man als Unternehmen neugierig und agil bleibt und den Wert der Geschichte und des Gründungsimpuls’ immer wieder vor Augen hat.
Zur Person:
Der 48-Jährige Raphael Gielgen ist gelernter Tischler und Kaufmann. Seit mehr als 20 Jahren beschäftigt er sich mit der Zukunft der Arbeit. Bei Vitra ist er seit 2014 als Leiter „Research und Trendscouting“ tätig.