Tuttlingen klingt nach Medizintechnik, doch der Landkreis steht auch für Maschinenbau, Automobil- und Musikindustrie. Große Unternehmen bringen Offenheit und Vielfalt in diese ländliche Region.
VON KATHRIN ERMERT
Der Blues kommt aus Trossingen. Gewagte These? Nicht ganz. Viele Mundharmonikas, auf denen Afroamerikaner jene Arbeitslieder spielten, aus denen sich der Blues entwickelte, stammen von Hohner. Das 1857 gegründete Trossinger Unternehmen, heute noch Weltmarktführer für Mundharmonikas und Akkordeons, verkaufte einen Großteil seiner Instrumente in die USA, an Blueslegenden oder Musiker wie Bob Dylan oder Johnny Cash. Die Filmmelodie von „Spiel mir das Lied vom Tod“ entstand auf einer Hohner-Mundharmonika.
Das Unternehmen hat die 17.000-Einwohner- Stadt geprägt – optisch mit imposanten alten Werksgebäuden und kulturell. „Trossingen ist die Musikstadt“, sagt Bürgermeisterin Susanne Irion. „Es gibt wohl weltweit keine andere Stadt mit einer so hohen Dichte musikalischer Einrichtungen.“ Seit 1931 lernen angehende Akkordeonlehrer am Hohner-Konservatorium, seit 1944 ist die Staatliche Hochschule für Musik (HfM) in Trossingen. Die Stadt beheimatet zudem eine Musikakademie, einen Verband, mehrere Musikschulen und -verlage, ein Klavierhaus, das Deutsche Harmonikamuseum und eben Hohner. „Musik ist bei uns auch ein Wirtschaftsfaktor“, sagt Irion.
“Ganz Trossingen wirkt wie ein großer Campus.”
Mechtild Neininger-Hofmann, Pressesprecherin Musikhochschule Trossingen
Mehr als 50 Professuren, 20 Dozenten und gut 20 Verwaltungsangestellte zählt die Musikhochschule, zudem viele freie Lehrbeauftragte und 450 Studierende. Etwa ein Drittel kommt aus Asien, die restlichen aus Deutschland und Europa. „Während des Semesters wirkt ganz Trossingen wie ein großer Campus“, sagt HfM-Pressesprecherin Mechtild Neininger-Hofmann. Das unterscheide die Musikhochschule von denen in größeren Städten. Auch die Verzahnung mit der Region sei stärker als anderswo.
Studierende oder Ehemalige leiten viele Kapellen und Chöre der Region oder unterrichten an Schulen. Wirtschaft und HfM kooperieren viel. Die Stiftung des Schalterherstellers Marquadt finanziert ein Stipendium, der Medizintechnikkonzern Aesculap sponsert und stellt seine Werkhalle für eine Opernproduktion, der IHK-Chef sitzt an der Spitze des Hochschulrats. Als sich die Landesregierung vor ein paar Jahren anschickte, die HfM Trossingen zu verkleinern, stellte sich die Wirtschaft auf die Hinterbeine. Als Standortfaktor sei sie gerade bei der Anwerbung von Fachkräften unverzichtbar.
Jung und reich
Und Fachkräfte braucht der Kreis. Die Region zwischen der Hochebene Baar im Westen, dem Heuberg und dem Donaubergland im Osten, die noch Anfang des vergangenen Jahrhunderts sehr arm war, präsentiert sich heute als „blühende Industrielandschaft“, wie es auf der Kreiswebsite heißt. Fleiß, Ideenreichtum und Sparsamkeit der Menschen hätten den Landkreis zu einer Gewinnerregion gemacht. Der Prognos-Zukunftsatlas 2019 attestierte ihm „positive ökonomische und demografische Trends“. Die Industrie ist innovativ, die Kaufkraft überdurchschnittlich, die Bevölkerung jung und wachsend.
Allein die Medizintechnik in und um Tuttlingen beschäftigt rund 13.000 Menschen. Etwa 400 Unternehmen, überwiegend kleine und mittelgroße, setzten zusammen schätzungsweise fünf Milliarden Euro um. „So ein Cluster ist einmalig in Europa“, sagt Julia Steckeler, 41, Geschäftsführerin der Branchenorganisation Medical Mountains. Die Medizintechnikunternehmen verkaufen ihre Produkte weltweit. Von überall kommt medizinisches Personal hierher, um sich schulen zu lassen. Und an dem zur Hochschule Furtwangen zählenden Campus Tuttlingen kann man Medizintechnik studieren. Mit den Gästen vermischen sich Provinz und große Welt. Das macht die besondere Kultur der 37.000-Einwohner-Stadt Tuttlingen aus, findet Steckeler: „Es ist gewiss kein Großstadtflair, aber es gibt nichts, das es nicht gibt.“
Dünkel und Gourmets
Weltweit erfolgreiche Unternehmen hat der Kreis nicht nur in der Medizintechnik. Auf dem Großen Heuberg, der sich östlich von Trossingen erhebt, sitzt in fast jedem kleinen Ort mindestens ein Hidden Champion: Die Maschinenfabrik Berthold Hermle in Gosheim, der Drehteilespezialist Anton Häring in Bubsheim oder der Schalterhersteller Marquadt in Rietheim zählen viele hundert oder gar tausend Mitarbeiter und Kunden weltweit.
“Gibt es noch die Gäste, die genau aufpassen, wann sie begrüßt werden?”
Gaby Hauptmann, Autorin, in Trossingen aufgewachsen
Gründer wie Anton Häring, der sein Unternehmen 1961 startete und 2016 im Alter von 75 Jahren starb, übernahmen auch Aufgaben außerhalb ihrer eigentlichen Zuständigkeit. Häring baute etwa 150 Wohnungen für Mitarbeiter, die er aus Osteuropa rekrutierte, und verdoppelte so die Einwohnerzahl seiner Heimatgemeinde Bubsheim. Solch Engagement macht freilich anfällig für eine gewisse Ehrenkäsigkeit. „Gibt es noch die Gäste, die sich beschweren, wenn sie bei einem Festakt nicht in der ersten Reihe sitzen, die genau aufpassen, an welcher Stelle sie begrüßt werden?“, schrieb mal die Autorin Gaby Hauptmann, die in Trossingen aufgewachsen ist.
Auch typisch für Unternehmer – und es sind tatsächlich hauptsächlich Männer – in der Region ist ihr Verhältnis zu Geld. Sie lassen es großteils im Unternehmen, genießen einen gewissen Wohlstand, zeigen ihn aber nicht. Ähnlich unauffällig wie der Reichtum dort ist die kulinarische Perle Tuttlingens. Das Anima mit seinen gerade einmal zwanzig Plätzen versteckt sich im Erdgeschoss eines Bürogebäudes in zweiter Reihe. Heiko Lacher (32) hat es 2016 eröffnet und ein Jahr später einen Michelinstern erhalten.
“Da prallten Welten aufeinander. Gehobene Gastronomie kannte die Region nicht.”
Heiko Lacher, STernekoch, Restaurant Anima, Tuttlingen
Der Anfang war schwierig – „Da prallten Welten aufeinander. Gehobene Gastronomie kannte die Region nicht“, sagt Lacher. Doch die Qualität habe sich durchgesetzt: „Wer sich mit Kulinarik beschäftigt, kommt zu uns.“ Das legere Konzept helfe, da traue sich jeder rein. Manche Unternehmen bringen Geschäftskunden aus aller Welt ins Anima. Das kleine Sternelokal belebt damit den Tourismus insgesamt.
Teststrecke und Festival
Der Erfolg Tuttlingens scheint anziehend zu wirken. Der Daimler-Konzern wählte die Nachbarstadt Immendigen aus 120 Flächen als Standort für sein Prüf- und Technologiezentrum aus, berichtet Pressesprecher Alexandros Mitropoulos. Seit 2018 testet der Autobauer auf dem 520 Hektar großen ehemaligen Militärgelände alternative Antriebe, automatisierte Fahrfunktionen sowie generell alle Entwicklungen. Rund 300 Arbeitsplätze sind hier bei Daimler entstanden, und es haben sich Zulieferer und Dienstleister angesiedelt.
Ein ganz anderer bekannter Name gehört auch zu Tuttlingen: das Southside-Festival. Die Hamburger Firma FKP Scorpio Konzertproduktionen veranstaltet es seit 2000 in Neuhausen ob Eck. Mit 65.000 Besuchern zählt es mittlerweile zu den Größten in Deutschland und Europa. Im jüngsten Pollstar-Ranking stand Southside auf Platz 5 der einnahmenstärksten Festivals weltweit, berichtet Southside-Leiter Benjamin Hetzer. Der Aufwand ist gigantisch. Innerhalb von zwei Wochen entsteht auf 150 Hektar im Gewerbepark Take-off und angrenzendem Gelände die Infrastruktur einer Stadt.
Die Vorbereitungen dauern ein Jahr, der Aufbau selbst rund zwei Wochen. FKP Scorpio beschäftigt rund 250 Mitarbeitende ganzjährig, am Festivalwochenende sind etwa 5000 Personen im Einsatz. Bei Southside läuft Rock, Pop, Elektro, Hiphop oder Reggae. Ganz andere Genres als in Trossingen. Aber als Wirtschaftsfaktor und Aushängeschild gehört auch diese Musik zum Landkreis Tuttlingen.