Es geht um mehr als Wirtschaften. Warum der Krieg in der Region so präsent ist.
VON RUDI RASCHKE
Dieser Text entstand am 46. Tag des Ukraine-Kriegs – und es fällt immer noch unendlich schwer, in Worte zu fassen, was 1200 Kilometer entfernt von der Hauptstadt Berlin in der Hauptstadt Kiew und im ganzen Land dort geschieht. 1200 Kilometer, das ist ziemlich exakt die gleiche Luftlinien-Entfernung, die auch die Haupt-stadt Rom von Berlin trennt. Es war vermutlich die erste Fehleinschätzung, die diesem brutalen Überfall durch Russland vorausging: Dass es den Menschen im Westen Europas egal sein würde. Das ist es nicht, man sieht es aktuell an den Sanktionen, aber auch der unveränderten Hilfsbereitschaft. Beide sind tägliches Thema auch in Südbaden, in Betrieben und Kneipen, auf den Marktplätzen und in Familien. Es ist für uns nunmehr der dritte April in Folge, in dem wir uns fragen, ob es in Ordnung ist, dass wir Geschäfte und Privates planen, dass wir feiern wollen oder in den Urlaub, dass wir uns um die Zukunft Gedanken machen.
Das Ende von noch mehr Gewissheiten
Und wie in der Pandemie, die die vergangenen beiden Jahre dominiert hat und immer noch nicht besiegt ist, fragen wir uns hierzulande, wo hier jetzt bitte wieder die Hoffnung und das Gute erwachsen können. Wie können Krise und Krieg mit unzähligen Toten denn bitte schön als Chance begriffen werden? Einmal mehr denken wir darüber nach, dass uns noch mehr Sicherheiten genommen werden als ohnehin mit der Pandemie. Dass unsere Freiheit einen hohen Preis haben könnte. Dass uns der Wunsch nach Steigerungsraten, Wachstum und das Immer-weiter in bizarre Abhängigkeiten gebracht hat. Dass manche von uns in finanzielle Schieflagen geraten. Dass aber auch manches Gepöbel an der Tankstelle lächerlich ist gegen das, was die Menschen in den Kellern von Kiew oder Lwiw gerade durchmachen.
Schon wieder Zeitenwende
Und wieder ist die Rede von einer „Zeitenwende“: Dabei hat Corona bereits gezeigt, was die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umwälzungen, Versorgungsstrukturen und Abhängigkeiten, globale Krisen und regionale Auswirkungen auslösen können. In der scheinbar nächsten „Zeitenwende“ innerhalb von zwei Jahren erfahren wir in Südbaden, wie Rohstoffe knapp werden, Energie nicht verfügbar ist, das Geschäft mit Russland sich als Pakt mit dem Teufel präsentiert. Von diesen Themen handeln einige der Geschichten in diesem Heft.
Der Krieg und wir
Wer wie mit einer Lupe auf die Karte zwischen Offenburg und Weil oder knapp über die Grenzen blickt, wird zu fast jedem größeren Ortsnamen Geschichten finden, die uns mit dem Ukraine-Krieg verbinden. In St. Louis stehen am Basler Euroairport die festgesetzten Privatmaschinen russischer Oligarchen, eine Boeing wird Roman Abramowitsch zugeschrieben. In Staufen lebt der isolierte Putin-Vertraute Matthias Warnig, der als Multifunktionär von Nord Stream über Gazprom bis Schalke 04 beachtliche Kreise für Russland gezogen hat, auch in der Region. In Schwanau bekannte sich die Herrenknecht AG, die in Russland Tunnel und Leitungen für WM, Olympia und Nord Stream 2 verlegt hatte, zu den Sanktionen Deutschlands. Altkanzler Gerhard Schröder verlor seinen Job im Aufsichtsrat bei Herrenknecht. In Rust mussten in Windeseile Achterbahnen von den Sponsoren-Designs der Nord Stream 2 befreit werden.
Aber gerade auch die riesigen Hilfeleistungen, die von hier in die Ukraine gehen oder den Geflüchteten zugutekommen, sind zu erwähnen. In Freiburg organisieren wichtige Aktionsbündnisse, manche eigens gegründet, manche wie das „Einlädele“ seit drei Jahrzehnten aktiv, Konvois und Vor-Ort-Hilfe.
Das Beispiel Breisach
Zu Besuch in Breisach, einer Stadt, die stellvertretend für viele Mittelzentren im Regierungsbezirk steht: Eine historische Altstadt, geprägt von Gewerbegebieten mit Industrie und Transportunternehmen, aber auch landwirtschaftlich geprägte Ortsteile und etwas Tourismus. Gemeinsam mit seinem Kollegen in Neuf-Brisach hat Bürgermeister Oliver Rein dafür gesorgt, dass die gesamte Rheinbrücke auf einem Viertelkilometer blau-gelb beflaggt ist.
Auf dem Flur vor seinem Büro sind noch Wettbewerbsbeiträge zur Sanierung der Grund- und Gemeinschaftsschule ausgestellt, erster Gedanke des Besuchers ist die Frage, ob der Krieg in der Ukraine dafür sorgt, dass eine Schulsanierung an der deutsch-französischen Grenze wegen Kostensteigerungen verschoben werden muss?
Bürgermeister Rein (CDU) wirkt gefasst und ruhig. Zur Schule sagt er, dass es für so ein Projekt keine „lange Bank“ geben wird, „wir machen ohnehin nur die allernötigsten Sachen“, was Bautätigkeiten wie die Sanierung angeht. Gleichwohl weiß er nicht, ob der Kostenrahmen von 20 Millionen Euro noch realistisch erscheint.
90 Geflüchtete aus Ukraine sind aktuell in seiner Gemeinde angekommen, wie in Freiburg auch gibt es Helfer, die Güter in Richtung ukrainische Grenze bringen und einen traditionsreichen Helferkreis, der sich um alle kümmert, die auf ihrer Flucht hier am Rhein ankommen. Aus dem früheren Engagement für Menschen aus Gambia ist eines für die Ukraine geworden. Rein setzt auf die Integration und warnt davor, teilweise gut ausgebildete Kriegsflüchtlinge als billige Arbeitskräfte zu betrachten.
Die Themen hier in Breisach sind die, die Menschen und Unternehmen gerade in ganz Deutschland erleben. Die Tapetenfabrik Erismann hat in Russland eine Tochter, bei der allein vor den Toren Moskaus 380 von insgesamt 580 Mitarbeitern tätig sind. Rein hat zum Zeitpunkt unseres Treffens noch nicht mit den Breisacher Vertretern gesprochen, wie sich mögliche Sanktionen auswirken. Eine Anfrage von netzwerk südbaden beantwortete der bekannte Tapetenhersteller ebenfalls nicht. Eigentlich war der Betrieb gut durch die Corona-Zeit gekommen und hatte guten Umsatz mit der neuen Lust aufs Renovieren und Daheimbleiben.
In einem anderen Breisacher Gewerbegebiet geht die eben gegründete Holzhausfabrik mit der Hypothek enorm steigender Rohstoff-Preise an den Start. Rein spricht von örtlichen Bauträgern, die nicht mehr wissen, wie sie in Zukunft mit Gewinn bauen können, aber auch von Landwirten, die Probleme mit den Kosten für Saatgut wie Diesel bekommen werden.
Von der lokalen zur Weltpolitik
Aber: „Wir Kommunen können Krise und Transformation“, sagt der Breisacher Bürgermeister. Und was mit dem Gespräch über die lokale Schulsanierung anfing, endet mit den außenpolitischen Begegnungen eines südbadischen Bürgermeisters. Nicht nur weil Rein bereits in Freiburgs ukrainischer Partnerstadt Lwiw war und damit ein Bild von einem unterschiedlich entwickelten Land zeichnen kann: Mit einem recht schlichten Umland, einer historischen, studentisch geprägten Innenstadt, aber auch dem hochmodernen, überdimensionierten Flughafen von der Fußball-Europameisterschaft 2012.
Wir können Krise und Transformation.
Olliver Rein, Bürermeister von BReisach
Zu den Begegnungen gehört auch, dass Rein regelmäßig in Breisachs polnischer Partnerstadt Oświęcim zu Gast ist, dem einstigen Auschwitz. Die historische Erfahrung von menschlicher Grausamkeit ist dabei ebenso präsent wie die schlichte Sorge um die Sicherheit seiner polnischen Kollegen. Er denkt aber auch an Amtskollegen aus der Ukraine, die er dort kennen gelernt hat.
Am Ende dreht sich Oliver Rein nach hinten und zeigt aus seinem Dienstzimmer oben auf dem Breisacher Münsterberg aus dem Fenster über den Rhein. „Das ist unser einstiger Erbfeind“, sagt er mit Blick nach Frankreich. Es ist die Hoffnung auf Aussöhnung und ein Danach des Kriegs.
Grenzen der enthemmten Wirtschaft
Es schwingt aber hier im Rathaus in Breisach wohl auch irgendwie die Hoffnung mit, dass die Politik, sei sie lokal oder international, neuerdings wieder etwas bewegen kann. Denn dass die politischen Sanktionen, denen sich sogar die Schweiz angeschlossen hat, nunmehr das Geschäft mit Gas und lukrativen Märkten ausknipsen, kann durchaus als Wende angesehen werden: Die recht rücksichtslosen internationalen Konzerne, all die Starbucks, McDonalds’, Apples oder Amazons, haben sich aus dem Russland-Geschäft zurückgezogen. Das Versprechen, dass sich mit ihrem Engagement in Diktaturen oder Autokratien irgendein „Wandel durch Handel“ erfüllt, hatte sich ohnehin nicht erfüllt. Ein enthemmter Markt und ein passiver Staat – dass das vorbei ist, könnte ebenfalls Teil einer Zeitenwende sein.
„Lieber auf Umsatz verzichten als auf Anstand“ sagte die Unternehmerin Nicola Leibinger-Kammüller, Miteigentümerin des schwäbischen Unternehmens Trumpf mit 15.000 Mitarbeitern, hierzu Anfang April in der „Süddeutschen Zeitung“. Der Region Südbaden ist sie dahingehend verbunden, dass hier die Konzerntochter Trumpf Hüttinger angesiedelt ist. Außerdem hat Leibinger-Kammüller in Freiburg studiert. So klar dieser Satz in Bezug auf Russland ist, so unbestimmt ist die Unternehmenschefin mit Blick auf den ökonomischen Konflikt, in dem sich die deutsche Wirtschaft bei einem Energie-Embargo befände. Oder bei Sanktionen gegenüber China. „Ohne China wird es eng im produzierenden Gewerbe in Deutschland“, sagt sie im selben Interview.
Aus Gottenheim in die Ukraine
Wo die schwäbische Unternehmerin grundsätzliche politische Fragen und wirtschaftliche Einschätzungen wiedergibt, gibt es in Südbaden auch mittelständische Unternehmen, bei denen sich weit mehr Dimensionen des Ukraine-Konflikts abbilden. Bei AHP Merkle in der Tuniberg-Gemeinde Gottenheim ist es ebenfalls die Frage nach Rohstoffen. „Das Vorprodukt für unseren Stahl kam bislang von Stahlwerken aus der Ukraine“, sagt Christen Merkle, Geschäftsführer des Herstellers von Hydraulikzylindern. Was das Geschäft mit Russland angeht, habe er dagegen nicht viel zu kündigen, lediglich einige Kunden standen in Beziehungen zu Russland. Und ein erster Flüchtling habe bereits angefangen, bei ihm zu arbeiten.
Das Ausgangsprodukt für unseren Stahl kommt von Händlern aus der Ukraine.
Christen Merkle, Geschäftsführer AHP Merkle
Zur Unternehmensgeschichte gehört die Renate-Merkle-Stiftung, benannt nach der Frau des Gründers, der Mutter des Chefs. Seit 2002 engagiert sie sich in der Ukraine, beide sind Ehrenbürger einer Gemeinde nordöstlich von Lwiw. Was als Brotprojekt zur Unterstützung armer Menschen und gegen die Landflucht begann, ist jetzt zu einer großen humanitären Unterstützung angewachsen: 230.000 Euro hatte die Stiftung Ende März seit Kriegsbeginn gesammelt, die Spender kommen aus Dänemark bis Zürich. „Jeder Euro kommt an“, sagt Christen Merkle, der die Situation im Westen des Landes betroffen verfolgt.
Er freut sich, dass jetzt aus allen Richtungen für unterschiedlichste Institutionen gespendet wird, „jede Konkurrenz ist hier fehl am Platz“. Wichtig seien jetzt Geldspenden, es mache keinen Sinn, hier Sachen zu kaufen und zu verschicken. Seine Stiftungsmitarbeiterin vor Ort sagt, dass der wahre Versorgungsengpass im nächsten Jahr komme: „Der Hunger kommt nächstes Jahr, weil keiner auf die Felder kann.“ Bei Unternehmensfesten oder Einweihungen von AHP Merkle und bei vielen Konzerten ist die von der Stiftung unterstützte Volkstanzgruppe „Tschervona Ruta“ aus der Ukraine oft zu Gast gewesen. „Viele der Jungs, die hier getanzt haben, sind jetzt an der Front“, sagt Merkle. Über einen Krieg, der uns auf viele Arten nahe geht.