Der Verkehr nimmt zu. Es wird enger auf den Straßen, Rad- und Gehwegen. Selbst im Wald kommt es zur Flächenkonkurrenz. Konflikte sind alltäglich. Über Aggressionen beim Autofahren, Fußgänger ohne Lobby und Toleranz im Grünen.
Text: Christine Weis
An der Supermarktkasse würde niemand einfach aus der Schlange ausscheren und sich vorne reindrängeln, aber auf der Autobahn passiere das nur allzu oft, erzählt Verkehrspsychologe Ulrich Chiellino. Und der Leiter der Verkehrspolitik beim ADAC liefert die Erklärung für das Verhalten gleich mit: „Im Auto ist man anonym, und es ist ein geschützter Raum. Das verleitet dazu, über die Stränge zu schlagen, weil man nicht mit einer direkten Gegenreaktion rechnen muss.“ Natürlich würden sich dann jene aufregen, die regelkonform in der Schlange bleiben, aber sie sollten sich nicht persönlich angegriffen fühlen, rät er.
Auffahren, Drängeln, riskantes Überholen, Beleidigungen, Lichthupe – auf den Straßen geht es kämpferisch zu. Laut einer Befragung der Unfallforschung der Versicherer aus dem vergangenen Jahr machen rund 50 Prozent ihrem Ärger im Verkehr Luft. 44 Prozent bremsen gelegentlich, wenn jemand hinter ihnen drängelt. Aufs Gaspedal treten 31 Prozent, wenn sie überholt werden. Bei einer aktuellen ADAC-Umfrage unter Führerscheinneulingen gaben umgekehrt 51 Prozent an, dass ihnen öfter aggressives Verhalten entgegengebracht wird, weil sie sich noch nicht so routiniert verhalten.
Der Straßenverkehr ist ein Spiegel der Gesellschaft. Wer sich im Alltag unsolidarisch verhält, tut es eben auch auf der Straße. Verkehrspolitiker Chiellino beobachtet ein erhöhtes Stresspotenzial bei Verkehrsteilnehmern. Als Hauptursache nennt der Experte Zeitdruck. Wenn zur Terminhektik noch Störungen wie dichter Verkehr, Stau, Baustellen, Hitze oder schlechte Sichtverhältnisse kommen, kann dies Aggressivität auslösen. Im Extremfall würden dann sogar Schädigungen anderer in Kauf genommen.
Neben dem Zeitdruck ist auch Konkurrenz ein Stressor. Pkw, Lkw und – gerade in Städten – auch Fahrräder, E-Scooter und ÖPNV müssen sich die Straßen teilen. Fahrradfahrende und Autofahrende stehen sich dabei häufig unversöhnlich gegenüber. „Eine gute Infrastruktur für alle Verkehrsteilnehmenden kann Konflikte vermeiden und eine Begegnung auf Augenhöhe fördern“, sagt Chiellino. Er betont aber auch, dass sich trotz Spannungen die Mehrheit der Verkehrsteilnehmenden in Deutschland sicher fühlt. Das liege vor allem daran, dass das Verkehrssystem durchreguliert ist und man sich darauf verlassen könne, dass Personen, die sich bewusst und über einen längeren Zeitraum nicht an Regeln halten wollen, durch das Punktesystem ihre Fahrerlaubnis verlieren werden.
Zu Fuß in Konstanz
Gehen ist die ursprünglichste Bewegungsart, und dennoch spielen Fußgängerinnen und Fußgänger in der Debatte um die gerechte Verteilung der Verkehrswege nur eine Nebenrolle. Dabei wird es für sie enger. Denn auf den Gehwegen parken häufig Autos, Räder und E-Scooter, stehen Bistrotische und Werbetafeln. Der bundesweite Verein Fuß vertritt die Interessen der großen und wenig beachteten Gruppe. Werner Frank ist Gründungsmitglied der Konstanzer Ortsgruppe. Der 68-jährige Optikermeister beklagt, dass Gehwege häufig als billige Parkmöglichkeiten missbraucht würden, mit der Konsequenz, dass ein einfaches Vorbeilaufen mit Rollator oder Kinderwagen kaum mehr möglich sei. Er findet es ungerecht, dass die Gehwege in Fahrradspuren und Fußwege aufgeteilt wurden. „Warum nimmt man gerade den Fußgängern den Platz weg und nicht den Autos?“, fragt Werner Frank. Der Straßenraum sollte seiner Meinung nach anders aufgeteilt werden. Dem motorisierten Individualverkehr (MIV) dürfe gerade in Städten keine Priorität zukommen, er sollte mit Fußgängern, öffentlichem Nahverkehr (ÖPNV) und Radverkehr gleichgestellt sein.
Franks Vorschlag: „Zugunsten des Radverkehrs dem Auto Raum wegnehmen und die kombinierten Rad- und Fußgängerwege wieder allein den Fußgängern überlassen.“ Damit könnten Konflikte vermieden werden, zu denen es vor allem zwischen Fußgängern und Radfahrern komme. „Viele Fußgänger sind auch Kfz-Nutzer und empfinden Radfahrer als die eigentlichen Störenfriede“, sagt Werner Frank. WEITERLESEN