Verkehr, der zum Erliegen kommt, bringt auch Autofahrer nicht weiter. Umgekehrt belegen zahlreiche Beispiele, wie die Lebensqualität in Städten steigt, die das Leben für Fußgänger und Radler qualitativ verbessern. Was hält uns in der Umsetzung auf? Ein Debattenbeitrag zur Verkehrswende am Beispiel Freiburg.
VON ANDREAS FREY
Wer den Verkehr der Zukunft sehen will, muss sich Paris, Oslo, Brüssel oder Barcelona ansehen, ja sogar die kolumbianische Hauptstadt Bogota setzt die Verkehrswende mittlerweile konsequent um. Dort wurde in wenigen Monaten erreicht, was viele Jahrzehnte undenkbar erschien: Die Vorherrschaft des Autos wurde beendet.
Ganze Straßenzüge sind in diesen Städten mittlerweile autofrei, dafür wurden breite Radrouten errichtet, großzügige Gehsteige für Fußgänger geschaffen – und das in kurzer Zeit. Die Straße gehört jetzt wieder den Menschen. Und langsam verschwindet das Blech aus dem Stadtbild.
Mehr Kfz denn je in Freiburg
In Freiburg hingegen, der angeblichen Fahrrad- und Ökostadt, kommt die Verkehrswende kaum voran. Es gibt so viele Autos wie nie zuvor. 93.300 Pkw weist das Statistische Landesamt für das Jahr 2020 in Freiburg aus, ein absoluter Rekord. Die Zahl der Autos wächst schneller als die der Einwohner. Und der Trend zeigt seit Jahren nur in eine Richtung: nach oben. In nur zwölf Jahren kamen in Freiburg fast 13.000 neue Autos
hinzu, während sich das ohnehin knappe Parkplatzangebot kaum veränderte. Zudem sind sie grundsätzlich länger, breiter und höher geworden.
Es gibt also immer mehr Autos, Wohnwagen und Transporter auf konstant bleibender Fläche, offiziell genehmigt in Form eines Anwohnerparkausweises von der Stadt Freiburg für rund 30 Euro im Jahr. In manchen Stadtteilen übersteigt die Zahl der Autos das Angebot an Parkplätzen nahezu dreifach.
Das Ergebnis dieser fatalen Entwicklung lässt sich überall beobachten: Autos dominieren die Hauptverkehrsachsen und auch Wohnviertel, regelmäßig kommt es zu Stau und vollgeparkten Straßen, sogar Nebenstraßen und Spielstraßen sind meist mit Autos zugestellt. Abgestellt werden sie in den dafür großzügig ausgewiesenen Parkplätzen, aber nicht nur dort: Autos parken verbotenerweise auf Gehwegen, stehen auf Radstreifen, versperren Kreuzungen oder fahren durch Straßen, in denen sie nichts zu suchen haben – und gefährden damit alle anderen Verkehrsteilnehmer auf ihren Wegen durch die enge Stadt, darunter viele Kinder. Konsequent durchgegriffen wird allerdings weder bei Falschparkern noch bei Kurzhaltern mit Warnblinklicht, sofern solche Vergehen überhaupt kontrolliert werden.
Wenig Mut und Vision in der Stadt
Was unternimmt die Stadt gegen den alltäglichen Wahnsinn auf Freiburger Straßen? Jedenfalls nichts, was der Bezeichnung Verkehrswende gerecht werden würde. Die selbsternannte grüne Stadt lässt sich zwar international für ihr Image feiern, ruht sich aber seit Jahren auf ihrem Label „Green City“ aus. Klimaschutz wird zwar propagiert, aber im Verkehrssektor herrscht seit Jahren Stillstand.
Es gibt keinen Mut, keine Vision, keine echte Abkehr von der autogerechten Stadt, wie man sie in der Wissenschaft seit Jahrzehnten fordert. Dabei ist eine echte Verkehrswende kein hübsches Projekt von Ökos und Outdoorjackenträgern, sondern aus mehreren Gründen überfällig: Lärm und Gestank müssen in den Städten ebenso schleunigst reduziert werden wie der CO2-Ausstoß des Verkehrssektors. Hinzu kommen die alltäglichen Gefahren, die Autos parkend wie fahrend darstellen und natürlich die Zunahme von Stau infolge der stärkeren Verkehrsbelastung.
Selbst das Coronajahr 2020 brachte nur minimale Fortschritte, obwohl das Offensichtliche nicht mehr zu leugnen war: Mehr Menschen fuhren plötzlich Rad, vor Restaurants speisten sie im Sommer auf umgewidmeten Parkplätzen. Anwohner entdeckten ihr Viertel, Kinder spielten ungestört vor dem Haus, Nachbarn kamen miteinander ins Gespräch. Das Leben fand wieder draußen statt. Und bei vielen setzte sich eine Erkenntnis durch: So wie es war, kann es nicht weitergehen, auch und gerade im Verkehr – der Raum in der Stadt muss neu verteilt werden.
Bei den Verantwortlichen in Freiburg herrscht offenbar blanke Angst vor dem Auto und seinen Besitzern, jeder Parkplatz, jede Fahrspur wird konsequent für das Auto verteidigt. Man traut sich kaum, denen wehzutun, die seit Jahrzehnten im öffentlichen Raum bevorzugt werden, obwohl längst festgestellt wurde, dass alle Verkehrsteilnehmer gleichberechtigt sind. Kurzum: Freiburg tut sich schwer, das Heiligtum Auto zu entweihen.
Wer lenkt den Verkehr? Auf Tour mit Fabian Kern
Warum das so ist, darüber kann der Radaktivist Fabian Kern (35) einiges erzählen. Kern ist der südbadische Geschäftsführer des Verkehrsclubs Deutschland und einer der führenden Köpfe des Freiburger Fuß- und Radentscheids. Kern kennt die Verkehrsprojekte in Freiburg und seine Hintergründe. Auf einer Radtour durch die Stadt möchte er zeigen, was falsch läuft in Freiburg. Er empfängt seinen Gast an einem kalten Wintermorgen vor der Radstation hinterm Hauptbahnhof. Bevor er auf sein Rad steigt, deutet er auf die umgebaute Wentzingerstraße zu seinen Füßen, zwischen Stühlinger Kirchplatz. Aus der Durchfahrt hinter dem Bahnhof ist eine Fahrradstraße geworden, und zwar Kfz-frei, wie Kern gleich anmerkt. Doch auf das Einfahrverbot für Autos deuten nur Schilder hin und keine bauliche Trennung. „Das ist die Crux“, sagt Kern. Die Bundespolizei möchte schnell zum Bahnhof gelangen – und das gehe nur durch die Fahrradstraße. Die Folge: Autos fahren auch weiterhin durch die für sie gesperrte Wentzingerstraße. Nichts ist so schwer zu bekämpfen wie alte Gewohnheiten.
Kern steigt auf sein Rad und rollt die Fahrradstraße hinunter zur neu gestalteten Engelbergerstraße. Vor dem Edeka- Supermarkt steigt er ab, nebenan parken Handwerker im absoluten Halteverbot. Vor ihm liegt eine gepflasterte Fußgängerquerung, ein paar Zentimeter erhöht und barrierefrei gestaltet. „Das ist eigentlich eine gute Lösung“, sagt Kern. Die Sicherheit an Kreuzungen hänge maßgeblich von der Geschwindigkeit ab, daher sei eine bauliche Regelung immer gut. Zudem wurden die Gehwege verbreitert. Einziger Kritikpunkt: Fußgänger seien hier trotz aller Umgestaltung nicht bevorrechtigt, wie er es im Amtsdeutsch ausdrückt. Autos haben also weiterhin Vorfahrt.
Die Fahrt geht weiter nach Westen, über die Bissierstraße bis an die Berliner Allee. Hier sieht Freiburg noch immer aus wie die alte autogerechte Bundesrepublik. Vor dem Polizeipräsidium gibt es überhaupt keine Infrastruktur für Radfahrer, dafür fünf Streifen für den motorisierten Individualverkehr. Wer weiter über die Berliner Allee auf direktem Weg in Richtung Westarkaden vorankommen will, muss als Radfahrer die breite Hauptverkehrsachse nehmen. Dort schiebt Kern sein Rad über die Straße. Auf dem Gehweg, der für den Radverkehr freigegeben ist, auf der anderen Seite der Westarkaden, könnte schon bald die Motorsäge anrücken. Beim Sportplatz soll eine Radspur eingerichtet werden, dafür müssen Büsche und wohl auch Bäume weichen. Die vier- bis fünfspurige Fahrbahn der Berliner Allee bleibt hingegen wie sie ist. „So läuft es meistens“, sagt Kern. „Die Kapazität des Kfz-Verkehrs soll nicht angetastet werden.“ Die Planung entspreche nicht dem Verkehrsentwicklungsplan.
Ähnlich könnte das auch in der Friedhofstraße beim Hauptfriedhof laufen, die Kern nach ein paar Minuten Fahrzeit erreicht. Er stellt sein Rad auf den Gehweg gegenüber der Straßenbahnhaltestelle und deutet mit der Hand auf die Parkplätze entlang der Straße. Die neue Radvorrangroute FR3 soll an dieser Stelle vorbeiführen, dafür braucht es Platz. Das Bebauungsplanverfahren ist bereits eröffnet. Kern hätte eine Idee, wie man den FR3 verwirklichen könnte. Ginge es nach ihm, würde er die 45 Parkplätze entlang der Straße auflösen und in einen breiten Radweg verwandeln. Das hätte den Vorteil, dass sich Radler und Fußgänger nicht in die Quere kämen.
Schaut man sich allerdings die Vorplanung der Stadt an, sollen auch hier die Parkplätze nicht angerührt werden.
Warum das Auto in der Planung der Stadt nach wie vor eine Sonderstellung einnimmt, erklärt sich Kern mit einer – aus seiner Sicht – falsch verstandenen Daseinsfürsorge, mit einer Politik, die alle Bedürfnisse im Blick haben möchte. „Die Stadt möchte auch weiterhin die nötigen Kapazitäten für den Autoverkehr zur Verfügung stellen, schließlich rechnet sie mit weiter steigenden Kfz-Zulassungen“, sagt er. Am Ende bliebe davon vor allem eines übrig: Verständnis für Autofahrerinnen und Autofahrer. Wo sollen die Autos denn sonst hin?
Das alles führt zur entscheidenden Frage, wer die Menschen in einer Stadt wie Freiburg eigentlich lenkt? Wer ist dafür verantwortlich, dass die ganze Stadt mit Autos zugestellt ist? Sind es die Bürgerinnen und Bürger, auch aus dem Umland, die einfach nicht auf das Auto verzichten können und wollen? Oder ist es die Politik, die steigende Zulassungen und zugeparkte Straßen als Naturgesetz betrachtet und nicht als Folge einer verfehlten Planung und Anreizpolitik?
Fabian Kern verweist in dieser Debatte auf den Gemeinderatbeschluss vom 8. Dezember, in der er als Gastredner auftrat. In jener Sitzung hatte der Gemeinderat eine Verkehrswende im Sinne des Freiburger Fuß- und Radentscheids beschlossen. Es gebe nun keine Ausreden mehr. „Die Verwaltung muss das
jetzt umsetzen“, sagt er. Die wichtigsten Forderungen für Kern sind Sicherheit für Fuß- und Radverkehr sowie wirksamer Klimaschutz. Denn: „Wir haben kein Erkenntnisproblem, sondern ein Umsetzungsproblem.“
Lebensqualität mit mehr Vielfalt auf der Straße
Die Erkenntnisse der Verkehrsforschung sind tatsächlich schon seit Jahrzehnten ziemlich eindeutig. Als einer der ersten forderte der Wiener Verkehrsforscher Hermann Knoflacher schon in den siebziger Jahren ein Umdenken in der Stadtplanung, eine Abkehr vom motorisierten Individualverkehr und eine Hinwendung zum Menschen, eine ganz und gar menschen- statt autogerechte Stadt. Der Autoverkehr hätte die Stadt hässlich, unsicher, laut und krank gemacht, die Fußgänger und Radfahrer an den Rand gedrängt, die Kinder in Käfige gesperrt. Alles, damit sich Menschen mit Gaspedal frei fühlen durften. Aber mittlerweile merken selbst eingefleischte Autofahrer, dass die Freiheit auf vier Rädern kein Versprechen mehr ist, sondern ein Irrtum. Die Freiheit des Einzelnen endet immer öfter dort, wo sie mit der Freiheit der Vielen kollidiert: im Stau. Das Auto ist nicht dafür geeignet, möglichst viele von A nach B zu bringen. Es verstopft den Raum und behindert sogar die Mobilität des Menschen, die gerade Autofahrer wie ein Grundrecht verteidigen.
„Korridorkapazität“: So bezeichnen Verkehrsforscher das Maß, mit dem eine bestimmte Zahl von Menschen in einer Stunde
über eine Straße oder Schiene – den Korridor – mit festgelegter Breite transportiert werden können. Ein Bus bewegt bis zu 10000 Menschen pro Stunde, auf einem Radweg kommen 15000 Menschen voran, im Auto bloß 1000. Ist der Wagen vollbesetzt, was selten genug vorkommt, kann sich die Zahl auf 4000 erhöhen. Es würde ein Bruchteil der Autos genügen, um die Mobilität zu sichern.
Und dennoch ist auch in Freiburg das Auto trotz seiner Ineffizienz immer noch das dominierende und bevorzugte Verkehrsmittel, wie die Mobilitätsstudie MiD von 2017 ergab, obwohl man häufig nicht schneller vorankommt als mit Bus, Bahn oder Rad.
Ginge es nach Knoflacher, würden die meisten Fahrzeuge schon bald aus den Städten verschwinden. Wien mache seit Jahrzehnten vor, wie das gelingen kann, mit durchschlagendem Erfolg. Die inneren Bezirke haben sich zumeist in Fußgängerzonen verwandelt, in den Außenbezirken erobern die Menschen nach und nach den öffentlichen Raum zurück. Die Einwohner Wiens sind mit dieser Entwicklung offenbar zufrieden: Die Donaumetropole ist weltweit die Stadt mit der höchsten Lebensqualität, gerade weil das Auto aus dem Stadtbild gedrängt wird.
Aber warum gelingt die Verkehrswende selbst in Freiburg nicht richtig? „Planer und Politiker sind zu zögerlich und ängstlich, sie fürchten die massive Macht der Autolobby“, sagt Knoflacher. Wer die Verkehrswende wirklich möchte, müsse das Auto angreifen. Und wer Angst vor dem Auto habe, sei ungeeignet in der städtischen Verkehrsplanung und in der Politik.
Mehr Einzelhandel und mehr Begegnungen
Die Umsetzung solcher Maßnahmen gelingt Knoflacher zufolge nur über Parkplätze. „Sie müssen den Autos die Parkplätze wegnehmen“, sagt er. Sein Vorschlag in Wien war: Kein kostenloses Parken mehr an der Oberfläche und in den Tiefgaragen, alle Parkplätze im öffentlichen Raum besteuern. „Sie müssen nur die Marktwirtschaft einführen in der Stadt, die echten Preise verlangen“, sagt er. In der Tat kostet der Quadratmeter ziemlich viel, pro Monat müssten eigentlich mehrere hundert Euro verlangt werden. Immerhin hat die Stadt Freiburg angekündigt, die Kosten für Anwohnerparkausweise auf wenige Hundert Euro anzuheben.
Der Umbau ganzer Straßen ist in Wien ein Erfolgskonzept, die Abschaffung von Parkplätzen scheint in der österreichischen Hauptstadt die wirksamste Methode zu sein, um das Auto aus der Stadt zu drängen. Begegnungszonen heißen solche Straßen: Wo früher eine graue Fahrbahn verlief, an der beidseitig Autos abgestellt wurden, ersetzt heute helles Pflaster den Asphalt; Bäume und Sträucher wurden gepflanzt, Beete angelegt, die Wiener bevölkern die Straße. Wie viel Lebensqualität die Menschen gewinnen, verstehen sie erst, wenn das Blech verschwindet.
Und wo sollen die privaten Pkw hin? „Das Auto muss raus aus der Stadt, hin zu Hochgaragen am Stadtrand, zu Knotenpunkten, an Stellen, die mit dem öffentlichen Verkehr gut erreichbar sind“, fordert Knoflacher. Von dort aus könne man mit dem Auto weiterfahren. Übrig bleiben Autos für Behinderte, Rettungskräfte, den Handel und Handwerker.
Doch genau davor fürchten sich die Geschäftsleute in der Stadt. Ohne das Auto gäbe es kaum noch Umsätze, heißt es. „Diese Furcht ist empirisch völlig unbegründet, das muss ich seit Jahrzehnten predigen“, sagt Knoflacher. Das Geld komme zu Fuß oder mit der Bahn oder dem Rad, die Umsätze würden nach einem Umbau sogar steigen. „In Innsbruck wurde ich zum Todfeind erklärt, als die Geschäftsleute mitbekamen, dass die Innenstadt autofrei werden sollte“, erzählt er. Später sollte er die Fußgängerzone sogar noch ausweiten, die Umsätze seien um dreißig Prozent höher gelegen. Der Grund: Die Kunden würden Ketteneinkäufe machen; es kämen mehr Leute, weil es andere Leute zu sehen gebe, weil soziale Netzwerke entstünden.
Viel wichtiger als hohe Umsätze ist aber die Verkehrssicherheit als Grund, die Verkehrswende endlich richtig anzugehen. In Freiburg sind im vergangenen Jahr mehrere Radfahrer schwer verunglückt, drei Menschen starben. In der Wiehre kam ein 43-jähriger Mann ums Leben, als er von einem Autofahrer in der schwer einsehbaren Ecke Zasiusstraße/ Bürgerwehrstraße übersehen wurde. Die Stadt hat jetzt die Kreuzung in der Wiehre umgebaut und übersichtlicher gestaltet, weitere werden folgen. Es ist wie so oft: Erst wird etwas unternommen, nachdem etwas Schlimmes passiert ist.
Dieser Artikel erschien zuerst in der Printausgabe von netzwerk südbaden im Januar 2021.
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