Blöde Witze, anzügliche Bemerkungen, selbst Gegrapsche galten in vielen Betrieben lange als harmloses Kavaliersdelikt. Doch die Einstellung zu sexueller Belästigung am Arbeitsplatz hat sich in den vergangenen Jahren sehr verändert. Wie Arbeitgeber dafür sorgen können, Grenzen zu respektieren.
Text: Kathrin Ermert
Es gibt einen guten und einen schlechten Grund, warum sich Unternehmen hinsichtlich sexueller Übergriffe am Arbeitsplatz bei Pia Kuchenmüller von der Freiburger Organisation Frauenhorizonte melden. Entweder weil Mitarbeitende das mittlerweile von einer progressiven Geschäftsführung erwarten. Oder weil es einen Vorfall im Betrieb gegeben hat. Der belastet nicht nur die Betroffene, sondern kann für das Unternehmen auch teuer werden, etwa weil dieser mit Ausfällen und Folgekosten einhergeht.
Bei den Artemed Kliniken Freiburg (AKF), zu denen das Loretto- und das Josefkrankenhaus in Freiburg gehören, war ersteres der Fall. Was nicht bedeutet, dass es keine sexuelle Belästigung gab. „Wir sind so viele, da ploppen immer mal Fälle auf“, sagt Anne Beck, Anästhesiekrankenpflegerin im Josefskrankenhaus und Betriebsrätin der AKF. Doch die Initiative des Betriebsrats hatte keinen konkreten Anlass. Sie entstand aus einem Mangel heraus, denn nach dem Trägerwechsel vom kirchlichen Regionalverbund kirchlicher Krankenhäuser (RKK) zur AKF gab es keine sogenannte Präventionsordnung mehr. Diese vorbeugende Struktur hatte der RKK als kirchliche Organisation infolge der Missbrauchsfälle aufgebaut, samt externen Anlaufstellen und Beratungen. Anne Beck und zwei weitere Betriebsräte machten sich zunächst selbst ans Werk und entwickelten einen Leitfaden zum Umgang mit Grenzverletzungen und Gewalt.
Das Thema ist komplex im Klinikalltag. Es geht gleichermaßen um die circa 2000 Mitarbeitenden, die aus vielen verschiedenen Ländern und kulturellen Hintergründen kommen, wie um die jährlich rund 26.000 stationären und 60.000 ambulanten Patienten. Grenzverletzungen gibt es sowohl unter den Beschäftigten als auch von Patienten gegenüber Mitarbeitenden. Umgekehrt brauchen vor allem sogenannte abhängige Patienten wie Kinder, Demente oder Narkotisierte besonderen Schutz. Beck und ihre Kolleginnen schauten, wie andere Kliniken mit dem Thema umgehen, merkten, dass sie Schulungsbedarf haben und stießen so auf Frauenhorizonte. Denn zwei Kolleginnen sind SC-Fans und kennen das Schutzkonzept „Fuchsbau“ des Bundesligisten, das der zusammen mit der Frauenschutzorganisation entwickelt hat.
Der Prozess muss von oben ausgehen
Frauenhorizonte begleitet Unternehmen oder Institutionen bei der Organisationsentwicklung. Es geht darum, Strukturen zu schaffen, die sexualisierte Übergriffe im besten Fall verhindern beziehungsweise klare Konzepte bieten, falls sie doch passieren. Dafür müssen Mitarbeitende aus allen Bereichen des Unternehmens entsprechend geschult werden, und es braucht standardisierte Prozesse: ein Beschwerdesystem und vor allem eine Anlaufstelle, an die Betroffene sich wenden können. Über allem steht die Offenheit für das Thema sexuelle Belästigung. Die falle einigen Unternehmen nach wie vor schwer, beobachtet Pia Kuchenmüller: „Manche denken, dass es einem Eingeständnis gleichkommt, wenn sie darüber reden.“ Sie setzt deshalb bei der Unternehmensspitze an. „Die Mitarbeitenden müssen wissen, dass die Geschäftsführung eine Haltung hat“, betont Kuchenmüller und plädiert dafür, Konsens zu schaffen: Wovon sprechen wir? Was ist eine Grenzverletzung?“
„Ich bin kein Schwesterlein, sondern eine hochprofessionell ausgebildete Pflegekraft.”
Anne Beck, Josefskrankenhaus
Die Freiburger Artemed-Kliniken sind mitten in diesem Prozess, berichtet Anne Beck. „Wir wollen es gut und fundiert machen für alle Berufsgruppen.“ Die Geschäftsführer der beiden Krankenhäuser stehen hinter dem Prozess und haben ihn bei der Betriebsversammlung vorgestellt. „Es ist unser gemeinsames Projekt“, betont Beck. Das sei gerade in Krankenhäusern wichtig, denn die waren lange sehr hierarchisch aufgestellt und damit anfällig für Grenzüberschreitungen. Sie hat selbst Übergriffe erlebt. In ihrer Ausbildung vor mehr als dreißig Jahren im Ruhrgebiet fasste ihr der Chefarzt an die Brust. Und als sie einer Kollegin davon berichtete, beschwichtigte die: Das macht er bei jeder Neuen. „Ich kenne viele, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben“, sagt Beck.
Solche Situationen seien heute zwar kaum mehr denkbar, doch die Erfahrung motiviert die Pflegerin zu ihrem Engagement im Betriebsrat: „Wir wollen Nulltoleranz gegenüber Sexismus, Rassismus und anderen Diskriminierungen.“ Ziel sei es, eine Atmosphäre zu schaffen, in der die Leute sich trauen, ihre Nöte zu äußern. Und in der alle Mitarbeitenden mit ihren Kompetenzen respektiert werden. „Ich bin kein Schwesterlein, sondern eine hochprofessionell ausgebildete Pflegekraft“, verdeutlicht Beck.
Das AGG schafft die arbeitsrechtliche Grundlage
Pia Kuchenmüller und ihre Kolleginnen bei Frauenhorizonte stellen auch fest, dass sich die Haltung zum Thema sexuelle Übergriffe in den zurückliegenden Jahren sehr verändert hat. Vor allem jüngere Frauen dulden weniger Grenzüberschreitungen. „Vor ein paar Jahren wurde Frauen noch geraten, sich zu schützen. Aber der Präventionsansatz ist die gesamtgesellschaftliche Verantwortung, dass es gar nicht erst so weit kommt“, sagt Kuchenmüller. Sie sieht die Me-Too-Bewegung als einen Grund dafür und auch die Reform des Sexualstrafrechts 2015 („Nein heißt nein“). „Wenn Gesetze sich ändern, können sich Strukturen ändern, kann sich die Gesellschaft ändern“, sagt Kuchenmüller. Das gelte auch im Kleinen: Wenn ein Unternehmen eine Struktur etabliert, könne es damit gegebenenfalls Grenzverletzungen reduzieren.
„Wenn ein Unternehmen eine Struktur etabliert, kann es damit gegebenenfalls Grenzverletzungen reduzieren.”
Pia Kuchenmüller, Frauenhorizonte
Arbeitsrechtlich sind Unternehmen ohnehin dazu verpflichtet. Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG), das 2006 erlassen und seither immer wieder angepasst wurde, verbietet die Ungleichbehandlung aus Gründen des Geschlechts, der Herkunft, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität. Mehr noch: Es verpflichtet den Arbeitgeber dies zu gewährleisten und bietet Beschäftigen einen entsprechenden Rechtsanspruch. Auch eine betriebliche Beschwerdestelle für Betroffene schreibt das AGG vor. Das Unternehmen schuldet seinen Beschäftigten also Schutz vor Diskriminierung. „Das ist so wichtig. Da braucht man nicht mehr drüber diskutieren“, sagt Kuchenmüller.
Die Praxis der Arbeitswelt hinkt dem hehren Anspruch allerdings hinterher, weil es keine Kontrollen gibt. Umfragen zufolge haben weniger als die Hälfte der Firmen eine Beschwerdestelle eingerichtet. Das könnte sich aufgrund der veränderten gesellschaftlichen Erwartungen ändern. Zumindest nehmen die Anfragen von Unternehmen und Organisationen extrem zu, berichtet Kuchenmüller. Und zwar ohne, dass Frauenhorizonte dafür wirbt. Wenn mehr Betriebe sich mit sexuellen Übergriffen auseinandersetzen, führt das allerdings zunächst dazu, dass mehr Fälle ans Licht kommen. Kuchenmüller begrüßt diesen scheinbaren Sisyphos-Effekt aber: „Wir gehen vom Dunkel ins Hellfeld.“ Außerdem entstehe bei der Auseinandersetzung mit dem Thema ein positives Abfallprodukt: „Wenn man kapiert hat, wie respektvolles, grenzachtendes Verhalten geht, funktioniert das auch für Rassismus und andere Themen“, sagt Kuchenmüller. Umgekehrt gelte: „So lange hingenommen, weggeschaut, bagatellisiert und relativiert wird, hat grenzverletzendes Verhalten einen Raum.“ Betriebsrätin Anne Beck weiß: „Man ist nie durch, es ist ein Prozess.“