In Kluft und ohne Handy – immer mehr junge Handwerksgesellen gehen mindestens drei Jahre und einen Tag auf Wanderschaft, und halten sich dabei an uralte Bräuche.
TEXT: JULIA DONÁTH-KNEER I FOTOS: ALEX DIETRICH
Janosch erscheint mit hellbrauner Kluft zum Interview in der Freiburger Kneipe Schlappen. Darf er denn die Montur, bestehend aus Hut, Weste, Hose, Hemd überhaupt noch tragen? Immerhin ist der 31-Jährige nicht mehr auf Wanderschaft, sondern seit rund anderthalb Jahren wieder in Freiburg. „Ja klar. Der Unterschied ist: Ich muss nicht mehr“, sagt Janosch, der als Steinmetz mehr als fünf Jahre lang um die Welt gereist und damit einer fast tausend Jahre alten Tradition gefolgt ist.
Die Walz gehört seit 2014 zum immateriellen Kulturerbe der Unesco. Seit etwa einer Generation erlebt sie einen neuen Aufschwung. Es gehen wieder mehr junge Leute auf Wanderschaft, vor allem in deutschsprachigen Ländern, aber auch in Frankreich, Belgien und Skandinavien. Dabei hat jedes Land seine eigenen Bräuche und Regeln. Es sind oft Männer, zunehmend aber auch Frauen. „Wahrscheinlich ist der Frauenanteil auf Wanderschaft höher als im Handwerk insgesamt“, meint Janosch. Eine davon, Mathilde aus Frankreich, arbeitet derzeit in der Freiburger Münsterbauhütte. Wir haben die Steinbildhauerin für die Fotostrecke in dieser Ausgabe ebenfalls getroffen.
Derzeit sind etwa 400 bis 600 Gesellen aus Deutschland auf der ganzen Welt unterwegs, schätzt Simon. Der Zimmerer, ebenfalls 31 Jahre alt, war von 2016 bis 2020 auf Wanderschaft. Genaue Zahlen kennt niemand, denn – das muss man verstehen – was die Reisenden wie, wann und wo genau machen, ist für Außenstehende nicht nachvollziehbar. „Nach innen ist aber dafür gesorgt, dass niemand verloren geht“, sagt Janosch. Dafür sorgen unter anderem die Schächte, denen man sich anschließen kann. Zehn verschiedene dieser Handwerkvereinigungen gibt es in Deutschland, die ältesten wurden Ende des 11. Jahrhunderts gegründet. Bei allen gilt: Keine Hackordnung, keine Hierarchie, auf der Wanderschaft ist jeder gleich. Herkunft, Ethnie, Religion, Geschlecht – all das spielt keine Rolle.
Im Ohr tragen Wandergesellen traditionell einen Ohrring. Früher war er aus echtem Gold, das im Todesfall für Beerdigungskosten genutzt wurde. Wer sich unehrenhaft verhielt und die Regeln der Walz verletzte, dem wurde der Ring wieder abgerissen – daher der Begriff „Schlitzohr“. Die verschiedenen Gewerke sind gut an ihrer Reisekluft zu erkennen. Das Holzhandwerk, also die Zimmerer, Schreiner oder Tischler, tragen Schwarz. Handwerker, die mit Metall arbeiten, Blau. Grau gehört unter anderem den Maurern. Steinmetze oder Steinbildhauer tragen Beige oder Hellbraun. „Es gibt noch viel mehr. Die sieht man nur nicht so häufig”, erklärt Simon. „Das Lebensmittelhandwerk, also Bäcker, Konditoren, Köche tragen Pepita-Muster, die Textilgewerke Rot.“
Mit leeren Taschen unterwegs
Gemeinsam ist allen Kluften: Acht Knöpfe auf der Weste stehen für acht Arbeitsstunden am Tag und sechs Knöpfe auf der Jacke für sechs Arbeitstage pro Woche. Nicht nur deswegen ist die Kleidung seit jeher ein wichtiger Indikator für Gesellen auf der Walz. „Es ist, als ob man ein großes Ich-bin-Handwerker-und-suche-Arbeit-Schild vor sich herträgt“, sagt Janosch. Und genauso funktioniert die Wanderschaft: Man wird angesprochen, hilft aus, bekommt Lohn, teilweise auch Kost und Logis, und zieht dann weiter. Auch, wenn es nur ein paar Wochen sind, werden die Gesellen ganz normal gemeldet mit Lohnzettel, Versicherung, Arbeitsvertrag.
Traditionell bleiben Wandergesellen nicht länger als ein paar Monate am selben Ort. „Man sagt, wenn dich der Postbote grüßt und der Hund nicht mehr bellt, ist es an der Zeit, weiterzuziehen“, berichtet Simon. Die meisten Regeln und Abläufe der Wanderschaft haben ihren Ursprung im Mittelalter und wurden nicht groß angepasst. So ist es auch heute zum Beispiel üblich, kein Handy mitzunehmen. „Du brauchst keine digitalen Medien, kein Tablet, kein Handy, keine Smartwatch“, bestätigt Simon. „Die Wanderschaft würde auch Bestand haben, wenn die moderne Welt untergeht, weil sie von Grund auf so aufgebaut ist, dass sie ohne digitale Kommunikation funktioniert.“
Wer losziehen möchte, muss seine Gesellenprüfung bestanden haben, unter 30 Jahre alt, schuldenfrei, ledig und kinderlos sein. „Es darf niemand auf das Einkommen eines Wandergesellen angewiesen sein. Es geht auch nicht darum, reich an Materiellem zu werden, sondern reich an Erfahrung“, sagt Janosch. Seine Stationen: Deutschland, Spanien, England, Schweden, Polen, Schweiz, Lichtenstein, Namibia, Japan, Kambodscha. „Ich war in Angkor Wat – der Traum eines jeden Steinmetz“, sagt er. Es sei außerdem wichtig, dass man sich als Reisender zu jeder Zeit so verhält, dass kein schlechtes Bild auf den Beruf des Handwerkers fällt. „Als Wandergeselle ist man sich seiner Verantwortung gegenüber der Kluft und allen, die diese Kleidung tragen, bewusst und benimmt sich so, dass einem nachfolgenden Gesellen ebenfalls die Tür geöffnet wird.“
„Sonst gehst du verloren“
Die Wanderschaft muss mindestens drei Jahre und einen Tag – und damit einen Tag länger als die Ausbildung – dauern. „Länger als sechs Jahre solltest du aber nicht unterwegs sein“, sagt Zimmerer Simon. „Sonst gehst du verloren.“ Auch er hat in knapp vier Jahren den Atlantik überquert, war unter anderem in Südamerika, Sierra Leone, in Rumänien und Frankreich. Auf der ganzen Welt Erfahrung sammeln zu können, ist unbezahlbar. Was woanders gemacht wird, unterscheidet sich mitunter massiv von deutschen Standards, eine wahre Fundgrube an Ideen und Fertigkeiten. „Mit dem Wissen der Gesellen und dem Austausch untereinander wandern seit Jahrhunderten Baustile um die ganze Welt“, sagt Simon. Im Hochmittelalter schickten die Meister ihre frisch ausgebildeten Gesellen aus zweierlei Gründen weg. Erstens, damit sie Augen und Ohren aufhalten konnten für Dinge, Gewohnheiten, Tätigkeiten, die sie Zuhause nicht erlernen konnten. Und zweitens, um sich selbst eine Schonfrist zu schaffen, bevor die selbst ausgebildete Konkurrenz im Ort ansässig werden konnte.
“Die Wanderschaft würde auch Bestand haben, wenn die moderne Welt untergeht, weil sie von Grund auf so aufgebaut ist, dass sie komplett ohne digitale Kommunikation funktioniert.”
Simon, Zimmerer
Heute sind die Handwerksgesellen freiwillig unterwegs, dürfen aber nach wie vor kein Geld für Reisen und Unterkunft ausgeben. Es heißt also Trampen oder Wandern. „Dass Wandergesellen weit reisen, war schon immer Teil der Walz. Dann zahlt dein Arbeitgeber ein Flug- oder Schiffticket statt des Lohns“, erklärt Simon, der ebenso wie Janosch auch für wohltätige Zwecke gearbeitet hat. Reisen darf man, wohin man will – außer nach Hause. Die sogenannte Bannmeile besagt, dass sich ein Geselle auf Wanderschaft, nachdem er sein Ortsschild überklettert hat (eine jener deutschen Traditionen, die von manchen belächelt, von anderen gefeiert wird), seinem Heimatort in einem Radius von 50 Kilometern nicht nähern und den Bannkreis auf Reisen auch nicht durchqueren darf. Wer losgeht, muss sich eine Art Mentor suchen – jemanden, der dich losbringt. Man wird „erwandert“, weil der Neuling automatisch in der Zunft desjenigen ist, der ihn abgeholt hat.
Für die Suche nach der Begleitung ist jeder und jede selbst zuständig. „Es ist eine Form der Selbstständigkeit, die Initiative beweist, die zeigt, dass man das wirklich möchte“, sagt Simon. Er selbst sei vor der Wanderschaft eher introvertiert gewesen und habe auf der Reise gelernt, auf Leute zuzugehen, soziale Netze zu pflegen und sich einer Gemeinschaft anzuschließen. „Die Wandergesellen bilden eine ganz besondere Gesellschaft, die sich gegenseitig unterstützt und trägt.“
Mitunter ein Leben lang. Norbert Hauer, 60 Jahre alt, Zimmermeister und Inhaber des Betriebs Hauer Holzbau im Kinzigtal, war in den Achtzigerjahren selbst auf der Walz. Heute ist er Vorsitzender der Rolandsbrüder, dem Schacht, dem auch Simon angehört. Gerade hat er eine europäische Jahresversammlung in der Nähe von Nürnberg organisiert, zu der mehr als hundertfünfzig Reisende und Fremde aus ganz Europa kamen. Genau wusste er vorher nicht, wer und wie viele erscheinen werden. Denn Reisende melden sich in der Regel nirgends verbindlich an. Aber wenn sie kommen, ist auf sie Verlass. „Wandergesellen schauen anders auf die Welt. Sie gehen mit einer positiven Grundeinstellung hinaus und wollen Arbeit“, sagt der Holzbau-Unternehmer, der regelmäßig Reisende beschäftigt und ihnen Schlafplätze zur Verfügung stellt. „Sie kommen zwar frisch aus der Lehre, sind also noch keine Spezialisten, aber ihnen liegt der Beruf so sehr am Herzen, dass sie dafür eine Reise auf sich nehmen.“ So gesehen ist die Walz ein Werbefaktor für die ganze Branche: Work and Travel für junge Leute, die leidenschaftlich für ihr Handwerk brennen.